22.08.2022

Ein fast perfekter Plan

Das erste Semester der sechsten Klasse neigt sich dem Ende entgegen. Es lastet ein immenser Druck auf den Schülerinnen und Schülern, weil die derzeitigen schulischen Leistungen über ihre weiteren schulischen Laufbahnen entscheiden werden.

Unmittelbar nachdem im Februar 2022 die Einteilungen in eine der drei Abteilungen der Oberstufe feststehen und im März die Gymiprüfung vorbei ist, stellt sich bei vielen Kindern jeweils die grosse Schulmüdigkeit ein und die Motivation für das weitere, eigenverantwortliche Lernen bis zum Abschluss der Mittelstufe, sinkt in den Keller. Wieso sollte man sich noch anstrengen, wenn die Weichen für die Zukunft doch bereits gestellt sind?

Dieser Herausforderung stellte sich Roman Klauser, Klassenlehrer der 6. Klasse im Schulhaus Obermatt, in diesem Jahr mit einem besonderen Vorhaben – einer Theaterproduktion. Kein fixfertiges Produkt sollte es sein, sondern eine Eigenentwicklung, massgeschneidert auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler der Klasse.

Alles begann mit einer gemeinsamen Entscheidung im Klassenrat Anfang November letzten Jahres, als sich die Klasse einstimmig für dieses Projekt aussprach, ohne zu wissen, welche Hürden es bis zur Premiere noch zu überwinden galt. Der Handlungsort war schnell gefunden – das frei erfundene Grand Hotel Victoria. Ein Ort, an welchem die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Hintergründen aufeinandertreffen, genau wie in einem Klassenzimmer.

Logo Grand Hotel Vicotria

Die Schülerinnen und Schüler setzten sich bei der Entwicklung der Rollen intensiv mit ihren persönlichen Wesenszügen, Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Interessen auseinander und bastelten sich mit ihren Lieblings- und Wunscheigenschaften ihr neues Ich. Dabei entstanden vielschichtige und komplexe Figuren, deren Vergangenheiten sich durch die weiterführende Projektarbeit langsam den Weg in eine verwobene, gemeinsame Gegenwart bahnten.

Innerhalb eines halben Jahres entstand eine abenteuerliche Geschichte einer Diebesbande rund um den Hotelchef Aziz Nazarov, der mit einem Team von ausgewählten Angestellten den Raub des Jahrhunderts verüben wollte. Als Anlass sollte ihnen die alljährliche Spendengala dienen, bei der auch die berühmte Sängerin Ariella Melisa Bundreu auftreten würde, welche bekannt ist für ihre einzigartige, mit wertvollen Juwelen besetzte Halskette. Die Bande rückte jedoch durch einen anonymen Hinweis in den Fokus einiger Agentinnen von Interpol, welche sich im Vorfeld undercover als Hotelangestellte einschleusten oder sich bei der Gala unter die Gäste mischten.

Der Plan, die Kette unbemerkt durch eine Fälschung auszutauschen, schien perfekt aufzugehen, wäre da nicht die unerwartete Wendung, welche die wahren Absichten der Beteiligten offenbarte und das begehrte Schmuckstück in die falschen Hände spielte.

Was eigentlich als überschaubares Abschlussprojekt angedacht war, entwickelte sich durch den engagierten Einsatz der Schülerinnen und Schüler jedoch innert kürzester Zeit zu einem Riesenprojekt. Denn in der anfänglichen, schulischen Lustlosigkeit keimte urplötzlich eine noch nie dagewesene innere Motivation auf, welche das Lernen durch ihre gewaltige Energie zum Kinderspiel werden liess. Dialoge schreiben, vortragen, darstellen, interpretieren, lesen, zuhören, Feedback geben, korrigieren, überarbeiten, am Computer abtippen oder gar auswendig lernen, war in den vorangegangenen Schuljahren oftmals eine Qual. Doch genau in diesem Moment wurden die zuvor erarbeiteten sprachlichen Kompetenzen zu nützlichen Werkzeugen, welche den Kindern im Rahmen des Theaters eine ganz neue Welt der Kommunikation und Interaktion eröffnete.

Es entstand ein 60 Seiten starkes Drehbuch und die Kinder rezitierten dieses an den beiden Vorstellungen beinahe wortgetreu während jeweils 90 Theaterminuten. Und als wäre das nicht genug, entwarfen und schneiderten einige Schülerinnen und Schüler neben den vielen Proben ihre eigenen Abendkleider für die Gala, nähten Kostüme und Hoteluniformen, sowie passende Accessoires wie Krawatten, Fliegen oder Taschen, bastelten Requisiten und gestalteten Kulissen.

Die Schülerinnen und Schüler wuchsen während der sechsmonatigen Arbeit an diesem Theaterstück über sich hinaus. Neben den unzähligen fachlichen Kompetenzen entwickelten sie dabei mindestens genauso viele überfachliche. So waren beispielsweise Konflikte und Meinungsverschiedenheiten an der Tagesordnung, welche mit einer ehrlichen, offenen und konstruktiven Gesprächskultur beigelegt werden konnten. Es entstanden zudem zahlreiche emotionale Momente mit Frust, Wut, Trauer oder Angst, bei denen diese neu entstandene Gemeinschaft bei der Bewältigung jeder Krise helfend zur Seite stehen konnte. Jede und jeder Einzelne war Teil von etwas Grösserem und alle waren wichtig, damit dieses Gesamtwerk funktionieren konnte.

Es ist bemerkenswert, welche enormen persönlichen Entwicklungen die Kinder mit Hilfe des Theaters in dieser kurzen Zeitspanne durchleben durften. Durch ihre Rolle trauten sich viele ihre Komfortzone zu verlassen, was es ihnen erlaubte, neue Facetten ihrer Persönlichkeit zu entdecken. Das Projekt förderte neben allerlei sozialen Kompetenzen ausserdem Selbstständigkeit, Eigenverantwortung, wie auch organisatorische Fähigkeiten, steigerte das Selbstwertgefühl, sowie das damit verbundene Selbstwirksamkeitsempfinden. Bei schulisch schwachen Schülerinnen und Schülern war dieser Effekt besonders gut erkennbar, da sie frei von den üblichen Leistungserwartungen zeigen konnten, was wirklich in ihnen steckt.

Das Schulhaus Obermatt hat das Thema «Learning through the arts» vor zwei Jahren ins Schulprogramm aufgenommen und möchte mit dem künstlerischen Ansatz einen weiteren Zugang zu ganzheitlichem Lernen schaffen. Dieses Theaterprojekt bestätigt einmal mehr die positive Wirkung von Kunst auf die Lernmotivation und den damit einhergehenden Lernerfolg und ist nur eine von vielen Bestrebungen, das Potential unserer Schülerinnen und Schüler bestmöglich auszuschöpfen.

Roman Klauser, Lehrperson Schuleinheit Obermatt